Die Amtsrichterin der 102 Zivilprozessabteilung des Amtsgerichts Mitte in Berlin hat mit bemerkenswertem Urteil mit klaren deutlichen Worten die Sparkassen Direktversicherung Düsseldorf verurteilt, restlichen, gekürzten Schadensersatz aus abgetretenem Recht zu zahlen. Wegen der klaren Worte der Amtsrichterin gebe ich das Urteil nachstehend im Volltext bekannt:
Amtsgericht Mitte
Im Namen des Volkes
Geschäftsnummer: 102 C 3013/10
Verkündet am: 14.09.2010
In dem Rechtsstreit
der Frau
Klägerin,
gegen
1. den Herrn
2. die Sparkassen Direkt Versicherung AG, vertreten durch d. Vorstand Dr. Jürgen Cramer und Andrea Mondry, Kölner Landstraße 33, 40591 Düsseldorf,
Beklagte,
hat das Amtsgericht Mitte, Zivilprozessabteilung 102, Littenstra&e 12 -17, 10179 Berlin, auf die mündliche Verhandlung vom 31.08.2010 durch die Richterin am Amtsgericht …
für Recht erkannt:
1. Die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 1.502,55 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11. Dezember 2009 zu zahlen.
2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, von der Inanspruchnahme durch Rechtsanwältin … aus der Rechnung Nr. … vom 29.01.2010 in Höhe von 185,00 € freizustellen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Die Beklagten tragen die Kosten des Rechtsstreits.
5. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Der Beklagte zu 1. wollte am 23. Oktober 2009 das bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherte Fahrzeug mit dem Kennzeichen … in der Linksstraße in Berlin ausparken und stieß dabei mit dem stehenden oder rückwärts fahrenden klägerischen Fahrzeug mit dem Kennzeichen … zusammen. Am klägerischen Fahrzeug entstand Sachschaden.
Die Beklagte zu 2. regulierte vorprozessual jeweils 50 % von 1.839,12 EUR (statt geforderter 2,212,31 EUR) Reparaturkosten netto, 404,60 EUR Gutachterkosten und 25,00 EUR Aufwandpauschale. Die Klägerin nimmt die Beklagten nun aus abgetretenem Recht auf Zahlung von restlichem Schadensersatz sowie Freistellung von außergerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten in Anspruch.
Die Klägerin trägt vor, das Beklagtenfahrzeug sei gegen das stehende klägerische Fahrzeug gestoßen.
Die Klägerin beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin 1.507,55 € zuzüglich Zinsen in Höhe von acht Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 11.12.2009 zu zahlen;
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, die von der Inanspruchnahme durch Rechtsanwältin … aus der Rechnung Nr. … vom 29.01.2010 in Höhe von 105,00 € freizustellen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage kostenpflichtig abzuweisen.
Die Beklagten tragen vor, Frau … sei gleichzeitig rückwärts gefahren, als der Beklagte zu 1. etwas auf die gegenüberliegende Fahrbahn eingeschert sei.
Das klägerische Fahrzeug könne anderswo günstiger repariert werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Die Akte des Polizeipräsidenten in Berlin (Ausdruck der elektronischen Akte), Aktenzeichen: … lag zu Informationszwecken vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Urteilstenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch insoweit aus §§7, 18 StVG, § 115 VVG aus abgetretenem Recht zu.
Gemäß § 10 StVO hat der fließende Verkehr, zu dem auch der Verkehrsteilnehmer gehört, der (rückwärts) einparken will, Vorrang gegenüber demjenigen, der aus einem Grundstück, Fußgängerbereich oder verkehrsberuhigtem Bereich auf die Fahrbahn, oder vom Fahrbahnrand anfahren will. Der fließende Verkehr darf in der Regel darauf vertrauen, dass sein Vorrang beachtet wird. Von dem An- bzw. Ausfahrenden wird äußerste Sorgfalt gefordert. Er ist gegenüber dem fließenden Verkehr nahezu allein verantwortlich und hat daher regelmäßig bei einem Unfall den gesamten Schaden zu tragen. Die Sorgfaltspflichten enden erst dann, wenn jegliche Einflussnahme des An- bzw. Ausfahrvorgangs auf den fließenden Verkehr ausgeschlossen ist. Kommt es im Zusammenhang mit dem An- bzw. Ausfahren zu einem Unfall, dann spricht der Beweis des ersten Anscheins gegen den Anfahrenden. Dieser trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der andere Verkehrsteilnehmer den Unfall (mit-) verursacht hat.
Die Beklagten haben diesen Anscheinsbeweis weder erschüttert noch widerlegt.
Es ist schon nicht substantiiert vorgetragen worden, warum die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs hier ein Mitverschulden treffen sollte.
Jedenfalls haben die Beklagten für ihr Vorbringen auch keinen geeigneten Beweis angetreten. Der Beklagte zu 1. war insbesondere nicht aus Gründen der Waffengleichheit als Partei zu vernehmen bzw. anzuhören, da ein Fall der Waffengleichheit nicht vorliegt, wenn eine beweispflichtige Partei kein geeignetes Beweismittel benennen kann und deshalb auch die vom Gegner benannten Zeugen nicht zu vernehmen sind.
Ein Unfallrekonstruktionsgutachten war hier nicht einzuholen, da es dahinstehen kann, ob die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs zum Unfallzeitpunkt rückwärts gefahren ist.
Die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs tritt mithin bei der Abwägung gemäß § 17 SrVG hinter dem erheblichen Verschulden des Fahrers des Beklagtenfahrzeugs zurück.
Der Klägerin stehen mithin restliche Reparaturkosten gemäß dem von ihr eingeholten Gutachten zu.
Abzüge hinsichtlich der Stundenverrechungssätze waren nicht vorzunehmen. Auch wenn die Beklagte technisch gleichwertige Kfz-Meisterbetriebe benannt haben sollte und diese Betriebe tatsächlich zu günstigeren Stundenverrechnungssätzen arbeiten mögen, so steht aufgrund des eingereichten Prüfberichts der Beklagten nicht fest, dass die Reparaturkosten netto 1.839,12 EUR nicht übersteigen. Die Reparaturkosten ergeben sich schließlich nicht allein aus den Stundenverrechnungssätzen. Vielmehr setzten Firmen, die mit niedrigen Stundenverrechnungssätzen arbeiten mitunter oder häufig eine höhere Arbeitszeit an (vgl. Tatbestand des „BMW-Urteils“, BGH v. 23.02.2010 – VI ZR 91/09): Die bloße Neuberechnung mit niedrigeren Stundenverrechungssätzen ist mithin nicht geeignet, eine mühelos zugängliche gleichwertige andere Reparaturmöglichkeit nachzuweisen.
Ein Sachverständigengutachten war insoweit nicht einzuholen noch war insoweit … als Zeuge zu vernehmen. Es hätte sich um einen unzulässigen Ausforschungsbeweis gehandelt.
Dem Kläger stehen weiter die geltend gemachten restlichen Gutachterkosten und die gemäß § 287 ZPO auf 20,00 EUR zu schätzende Kostenpauschale zu.
Zinsen sind insoweit aus §§ 286, 288 Abs. 1 BGB in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz vor.
Ein höherer Zinssatz konnte nicht zugesprochen werden.
Schließlich steht der Klägerin auch der geltend gemachte Freistellungsanspruch hinsichtlich der außergerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten aus abgetretenem Recht zu.
Erklärungsfrist auf den Hinweis des Gerichts war nicht zu bewilligen, da es eine Rechtsfrage darstellt, ob der Prüfbericht den Anforderungen des erkennenden Gerichts genügt und die Prozessbevollmächtigten der Beklagten bereits in mehreren anderen Verfahren auf die Rechtsprechung der erkennenden Abteilung hingewiesen worden ist, diese also bereits bekannt ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. ZPO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO.
Urteil zum Download >>>>>
Auszug:
Vielmehr setzten Firmen, die mit niedrigen Stundenverrechnungssätzen arbeiten mitunter oder häufig eine höhere Arbeitszeit an (vgl. Tatbestand des “BMW-Urteils”, BGH v. 23.02.2010 – VI ZR 91/09): Die bloße Neuberechnung mit niedrigeren Stundenverrechungssätzen ist mithin nicht geeignet, eine mühelos zugängliche gleichwertige andere Reparaturmöglichkeit nachzuweisen.
DER Satz geht wie Öl…Hut ab vor dieser Richterin…die hat ihre Hausaufgaben gemacht!
Diese Entscheidung hat es wirklich in sich. Die Argumentation in diesem Urteil kann man als WEGWEISEND für die künftige Auseinandersetzung bei der fiktiven Abrechnung von Unfallschäden bezeichen. Jeder Anwalt sollte künftig dieses Urteil in den Rechtstreit bei der fiktiven Abrechnung einbringen.
Die Richterin hat klar erkannt, dass es nicht nur auf die Höhe des Stundenverrechnungssatzes der „Alternativwerkstatt“ ankommt, sondern auf den Gesamtbetrag, der letztendlich für die entsprechende Reparatur bezahlt werden muss.
Die „Gleichheit“ zeigt sich eben erst unter´m Strich.
Im Gegensatz zur Markenwerkstatt ist z.B. eine „freie Werkstatt“ nicht an die Vorgabezeiten des Herstellers gebunden und hat somit die Möglichkeit, den „billigeren“ Stundenverrechnungssatz durch ein Mehr an Arbeitszeit zu „kompensieren“. Jeder, der irgendwann mit Handwerkern zu tun hatte, kennt doch diese Praxis? Zuerst wird ein billiger Stundenlohn vereinbart und danach durch „Stunden schinden“ abkassiert.
Was sagt uns das?
Eine Versicherung muss nicht nur beweisen, dass es sich bei der benannten „freien Werkstatt“ um eine gleichwertige Reparaturmöglichkeit handelt, die für den Geschädigten ohne weitere Mühe in Anspruch genommen werden könnte, sondern Versicherer müssen künftig auch eine genaue Kostenkalkulation der propagierten Alternativwerkstatt für den gesamten Schadensumfang vorlegen.
Und dies nicht erst im Prozess, sondern bereits im außergerichtlichen Angebot!
Denn nur dann ist es möglich, Äpfel mit Äpfeln zu vergleichen.
Ein „Prüfbericht“ irgend eines Dienstleisters, der nur die Stundenverrechnungssätze des Geschädigtengutachtens herunterrechnet, wird dem nicht einmal ansatzweise gerecht und reicht deshalb, zum genauen Kostenvergleich für den Geschädigten, nicht aus. Eine genaue Kostenkalkulation kann auch nur durch den entsprechenden Alternativbetrieb erbracht werden, da der letztendlich für diese Kalulation einzustehen hat. Denn es könnte ja durchaus sein, dass der Geschädigte von der fiktiven Abrechnung zur konkreten wechselt. Und dann muss die Werkstatt für das abgegebene Angebot gerade stehen!
Diese Betrachtungsweise ist sowohl erfreulich als auch vollumfänglich BGH konform.
Hallo Buschtrommler,
so sehe ich das auch. Damit wäre dann auch eine Gleichwertigkeit mit einer Eurogarantwerkstatt nicht nachgewiesen. Ja in Berlin-Mitte sitzen schon bemerkenswerte Richterinnen bzw. Richterinnen, die bemerkenswerte Urteile schreiben. Jetzt die Richterin in der 102. Zivilabteilung und damals die Richterin der 112. Zivilabteilung mit dem Urteil, dass die Weitergabe von Gutachten an Prüforganisationen ohne Zustimmung des Sachverständigen nicht möglich ist.
Mit freundlichen Grüßen.
Dein Willi
Hallo Hunter,
genau mein Reden hinsichtlich der Gleichwertigkeit und der Darlegungs- und Beweislast auf Seiten des Schädigers, und zwar bereits vorgerichtlich, damit der Geschädigte entsprechend seiner Dispositionsfreiheit entscheiden kann, welchen Weg er einschlagen will. Das Urteil ist völlig BGH-konform. Dieses Urteil muss daher einer breiten Bevölkerungsschicht bekannt gemacht werden. Wieder ist ein Stein aus dem Gleichwertigkeitsgefüge entfernt worden, wann stürzt es ein?
Schlicht einen Prüfbericht einer Prüforganisation übersenden mit geringeren Stundensätzen reicht nicht. Zu der Darlegungs- und Beweislast des Schädigers gehört auch, sämtliche relevanten Umstände der angeblich gleichwertigen Reparaturmöglichkeit darzulegen und zu beweisen. Dazu gehört nach AG Mitte – zu Recht – auch den Endbetrag der Reparatur in der freien Werkstatt anzugeben. Nur so kann der Geschädigte seine Dispositionsfreiheit gem. § 249 BGB ausüben. Wenn ihm wesentliche Punkte verheimlicht werden, ist ein Verglich und damit eine Dispositionsentscheidung nicht möglich. In der Tat handelt es sich um ein bemerkenswertes Urteil.
Vielleicht bringt die Clearingstelle dieses Urteil auch bis zum BGH. Ich bin dann auf die BGH-Rechtsprechung gespannt.
Mit freundlichen Grüßen
Willi
Dieses Urteil würde die „Clearingstelle“ – sofern es das trojanische Pferd überhaupt gibt – bestimmt gerne vor der Öffentlichkeit „wegschließen“.
Eine BGH-Prüfung seitens des GDV wird es natürlich nicht geben, da das Ergebnis wohl heute schon feststeht?!
Hallo Hunter,
die Clearingstelle gibt es, ist beim GDV angesiedelt. Es liegt an uns, das Urteil bundesweit bekannt zu machen. Es gibt die NJW, BeckRS, NZV, ZfS, VersR.,DAR, um nur die bekanntesten zu nennen. Also sollte die Redaktion dieses Urteil an die Redakteure und Schriftleiter der jur. Zeitschriften senden. Damit das Urteil aber abgedruckt wird, sollte auf die WEGWEISENDE Bedeutung hingewiesen werden. Das wollte und musste ich nur mal so loswerden.
Mit freundlichen Grüßen
Willi Wacker
Es ist die Frage, mit welchen verbindlichen Kostenvoranschlägen die Versicherungen kommen werden.
Bemerkenewert an diesem Urteil ist auch noch, dass den Prozessbevollmächtigten der Beklagten die Rechtsansicht der Dezernentin der Zivilabteilung 102 C des AG Mitte auch bereits aus anderen Verfahren bekannt war. Dies ergibt sich aus dem Schlußsatz: „…Erklärungsfrist auf den Hinweis des Gerichts war nicht zu bewilligen, da es eine Rechtsfrage darstellt, ob der Prüfbericht den Anforderungen des erkennenden Gerichts genügt und die Prozessbevollmächtigten der Beklagten bereits in mehreren anderen Verfahren auf die Rechtsprechung der erkennenden Abteilung hingewiesen worden ist, diese also bereits bekannt ist.“ Das hat gesessen.
Es handelt sich um ein Urteil einer einzelnen Richterin eines Amtsgerichts.
Die Begründung in dem Urteil ist nachvollziehbar und schlüssig.
Aber bitte, WEGWEISEND ist ein Urteil eines Amtsgerichts in einer Verkehrsunfallsache sicher nicht. Wegweisend ist vielleicht ein BGH-Urteil. Und auch das in letzter Zeit nur sehr eingeschränkt. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis der BGH das „neue“ Schadensrecht ausgearbeitet hat.
Also, bei allem Enthusiasmus die Realität nicht aus den Augen verlieren…
@RA Schepers
Alter Miesepeter!
Hunter Montag, 20.09.2010 um 19:29
Die Formulierung war sehr genau gewählt. WEGWEISEND ist nicht das Urteil, sondern die Argumentation in diesem Urteil!
Ob daraus eine wegweisende Entwicklung bei den Gerichten wird, ist Sache der Damen und Herren Rechtsanwälte.
Also nicht nur rumunken, sondern ran ans Werk!