Das Amtsgericht Köln hat mit Urteil vom 27.08.2008 (269 C 166/08) das Integritätsinteresse bei einer fiktiven Schadensabrechnung im 130 %-Bereich auch dann bejaht, wenn das Fahrzeug nach drei Monaten aufgrund eines Motorschadens veräußert werden musste. Das Gerichte hatte die beklagte Haftpflichtversicherung verurteilt, an den Kläger 802,39 € nebst Zinsen zu zahlen. Die Kosten des Rechtsstreites trägt die Beklagte.
Aus den Entscheidungsgründen:
Der Kläger erlitt am 26.10.2006 einen Verkehrsunfall, der von dem Versicherungsnehmer der Beklagten verschuldet wurde. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist zwischen den Parteien unstreitig. Sie streiten lediglich über die Höhe des Fahrzeugschadens, insbesondere darüber, ob der Kläger berechtigt ist, die Reparaturkosten auf Basis des Sachverständigengutachtens in Höhe von 936,01 € netto abzurechnen, obwohl er das unfallbeschädigte, aber verkehrssichere Fahrzeug nicht repariert und nach drei Monaten nach dem Unfall aufgrund eines Motorschadens aus wirtschaftlichen Gründen veräußert hat.
Die Beklagte zahlte vorprozessual auf den Fahrzeugschaden 158,62 € mit der Begründung, der Kläger müsse sich vom Netto-Wiederbeschaffungswert in Höhe von 2.758,62 € den Bruttorestwert in Höhe von 2.600,00 € in Abzug bringen lassen, so dass sein Fahrzeugschaden sich nur auf den vorprozessual gezahlten Betrag belaufe. Der Kläger behauptet, er habe den Wagen weiternutzen wollen, sei allerdings aufgrund des kapitalen Motorschadens im Januar 2007 aus wirtschaftlichen Gründen gehindert worden, das Fahrzeug weiterzufahren. Die Beklagte ist der Auffassung, der Kläger habe sein Fahrzeug nach dem Unfall mindestens sechs Monate weiternutzen müssen, um auf Gutachtenbasis abrechnen zu dürfen, ohne sich den Restwert des Fahrzeuges anrechnen lassen zu müssen. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger weiteren Schadensbetrag in Höhe von 802,39 € nebst Zinsen zu zahlen. Der Kläger ist berechtigt, seinen Unfallschaden fiktiv auf Gutachtenbasis abzurechnen, obwohl er das Fahrzeug nicht über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten nach dem Unfall weitergenutzt hat. Das Urteil des BGH vom 23.05.2006 (VI ZR 192/05) steht dem nicht entgegen. Zwar verlangt der BGH, dass der Geschädigte sein Fahrzeug mindestens sechs Monate nach dem Unfall weiternutzt, wenn er die vom Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswertes ohne Abzug des Restwertes verlangen möchte. Die Frage wie zu verfahren ist, wenn der Geschädigte aufgrund eines Umstandes, der von ihm nicht beeinflusst werden kann, an der mindestens sechsmonatigen Weiternutzung gehindert wird, ist vom BGH -soweit ersichtlich- bislang nicht entschieden worden. Das erkennende Gericht beanwortete diese Frage dahingehend, dass der Geschädigt für den Fall, dass er unverschuldet an der Weiternutzung gehindert wird, die vom Sachverständigen geschätzten Reparaturkosten bis zur Höhe des Wiederbeschaffungswertes ohne Abzug des Restwertes verlangen kann, sofern einen Weiternutzungswillen hatte und diesen ggf. auch beweist. Der Geschädigte ist grundsätzlich frei in der Entscheidung, welche Art der Naturalrestitution er wählt (Reparaturkostenersatz oder Kosten für ein gleichwertiges Fahrzeug). Entscheidet er sich für den Reparaturkostenersatz und die Weiternutzung des Fahrzeuges muss er sein Integritätsinteresse zum Ausdruck bringen. Veräußert er das Fahrzeug alsbald, gibt er sein Integritätsinteresse auf und realisiert den Restwert mit der Folge, dass er sich diesen anrechnen lassen muss. Tritt nach einem Unfall ein weiterer Schaden ein, der dem Geschädigten die Nutzung des Fahrzeuges unmöglich macht, kann dieser sein Integritätsinteresse nicht mehr realisieren. Die vom BGH als Grundsatz aufgestellte Sechsmonatsfrist kann nicht mehr eingehalten werden. Würde man dem Geschädigten jetzt die Möglichkeit abschneiden, auf Reparaturkostenbasis abzurechnen, obwohl er die ernsthafte Absicht der Weiternutzung auf längere Zeit hatte, würde man ihn ungerechtfertigt schlechter stellen und in seiner Dispositionsfreiheit beschneiden. Es kommt hinzu, dass sich bei Eintritt eines zweiten Schadens auch der ursprüngliche Restwert nicht mehr realisieren lässt, weil der Restwert des Fahrzeuges durch den zweiten Schadensfall reduziert wird. Es besteht deshalb nicht die Gefahr, dass der Geschädigte sich durch die Realisierung des (ursprünglich bestehenden) Restwertes bereichert. Der Kläger hatte die Absicht, das Fahrzeug, das im Übrigen verkehrssicher war, unfallbeschädigt weiter zu nutzen. Diese Absicht hat er jedoch infolge des Motorschadens, dessen Reparatur unwirtschaftlich gewesen wäre, aufgegeben. Dies hat der Kläger auch bewiesen. Das Gericht hat insoweit eine Beweisaufnahme durchgeführt.
Dass der Motorschaden vom Kläger verschuldet gewesen wäre, ist von den Beklagten weder dargetan noch sonst ersichtlich. Angesichts des Alters und der Laufleistung des Fahrzeuges war der Kläger auch nicht aus wirtschaftlichen Gründen gehalten, den Wagen instand setzen zu lassen, um sein Integritätsinteresse zu dokumentieren. Die Netto-Reparaturkosten belaufen sich unstreitig auf 936,01 €. Rechnet man die allgemein übliche Auslagenpauschale hinzu, die das Gericht auf 25,00 € gem. § 287 ZPO schätzt, ergibt sich ein Gesamtschaden von 961,01 €. Abzüglich der von der Beklagten vorprozessual gezahlten 159,62 € verbleibt der zuerkannte Betrag. Zinsen in Höhe des gesetzlichen Zinssatzes stehen dem Kläger als Verzugsschadensersatz zu.
Dementsprechend war die Beklagte kostenpflichtig zu verurteilen.
So das Urteil des Amtsrichters der 269. Zivilabteilung des Amtsgerichtes Köln. Das Amtsgericht Köln hat insoweit die interessante Frage hinsichtlich der 6-Monats-Weiternutzungsfrist entschieden, wenn ein plötzlich eintretendes Ereignis dazwischen tritt.
Ich stelle mir gerade vor, ich habe dieses Fahrzeug für einen Bruttorestwert in Höhe von 2.600,00 € erworben und nach drei Monaten landen diese beim Schrotthändler.
Wo kommt denn dieser Restwert her – das kann doch nur ein fiktiver Wert gewesen sein, um, ja um den Geschädigten übers Ohr zu hauen.
Schöne Grüße daher an die Restwertbörse und den Anbieter, der wohl genau wusste, dass er dieses Fahrzeug nicht abnehmen brauchte.
Virus
Hallo Willi Wacker,
ich halte die Begründung des Amtsrichters in Köln für überzeugend. In den 6 Monaten, die von dem BGH gefordert werden, kann vieles passieren. Der Nicht verschuldete Motorschaden zeigt deutlich, dass der starre Verweis auf 6-monatige Nutzung nicht richtig sein kann. Was passiert, wenn das Unfallfahrzeug in den 6 Monaten einen weiteren Unfallschaden mit wirtschaftlichem Totalschaden oder auch technischen Totalschaden erleidet, ohne dass dem Fahrer ein Verschulden zur Last gelegt werden kann? Was passiert, wenn das Fahrzeug durch unbekannte Dritte angezündet wird und total ausbrennt, was ist, wenn das Fahrzeug, obwohl gesichert, gestohlen wird? Was ist mit der 6-monatigen Nutzungsfrist, wenn der Geschädigte auf Grund einer plötzlichen schwerwiegenden Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, das Fahrzeug weiterhin zu nutzen? Alle diese vom Geschädigten nicht zu vertretenden Umstände können nicht der ersatzpflichtigen Versicherung zu Gute kommen.
Mit freundl. Grüßen
Friedhelm S.
Was passiert eigentlich, wenn der Geschädigte das Fahrzeug innerhalb des Integritätszeitraumes von 6 Monaten (fahrlässig) selbst zu Schrott fährt?
Könnte man doch seitens der Versicherung – mal so auf die Schnelle – Vorsatz unterstellen?
Oder besser noch. Der Geschädigte kassiert die vollen Netto-Reparaturkosten und fährt innerhalb von 6 Monaten sein (Vollkasko versichertes) Fahrzeug vorsätzlich „an die Wand“? Nachweis natürlich nur durch Geständnis möglich.
Oder der Geschädigte bringt, nach Auszahlung des Unfallschadens, sein Fahrzeug zur Inspektion, ruiniert danach seinen Motor (Anleitung gibt´s hier natürlich keine), lässt sich von der Versicherung der Werkstatt für den „Werkstattfähler“ abfinden und verschrottet danach sein Fahrzeug, da die Motorreparatur ggf. den Wiederbeschaffungswert des verunfallten Fahrzeuges (=immer höher als der Restwert) übersteigt.
Hierbei handelt es sich natürlich um einen rein hypothetischen Fall mit erheblicher krimineller Energie. Ähnlichkeiten mit vergeichbaren Fällen sind selbstverständlich rein zufällig.
Oder, oder, oder…..
Da hat der liebe BGH aber ein heiteres Spielchen angepfiffen?!
Der Fall zeigt sehr schön die Problematik, in die man mit diesem Sechs-Monats-Unfug hineingerät – und die mangelnde Praktikabilität dieser Frist. Es wird höchte Zeit, dass der BGH zur Vernunft zurückkehrt und seine Rspr. dahingehend präzisiert, dass dem Geschädigten in den 130%-Fällen voller (!) SE sofort zusteht – außer wenn der Geschädigte durch freiwilligen (!) Verkauf seines Fahrzeugs dokumentiert, kein Integritätsinteresse mehr zu haben.
Hallo User,
das von Willi Wacker eingestellte Urteil des AG Köln vom 27.08.2008 – 269 C 166/08 – ist jetzt veröffentlicht in der Zeitschrift NJOZ in Heft 4/2009.
MfG
RA. Wortmann
Hallo RA. Wortmann,
um welche Zeitschrift handelt es sich bei NJOZ?
Hi Friedhelm S.,
bei der Zeitschrift NJOZ handelt es sich um die „Neue Juristische Online-Zeitschrift“ im C-H Beck-Verlag.
Mit freundlichen Grüßen
RA Wortmann