Das Amtsgericht Kiel – 107. Zivilabteilung – verurteilt am 15.04.2008 – 107 C 161/07 – die Provinzial Nord Brandkasse AG zur Zahlung von 963,78 € nebst Zinsen sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 78,90 € zzgl. Zinsen. Die Kosten des Rechtsstreites sind der Beklagten auferlegt worden.
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Ersatz des Restschadens aus einem Verkehrsunfall, der sich am 01.09.2006 in Kiel ereignete. An dem Unfall war das Fahrzeug der Klägerin mit dem amtl. Kennzeichen PLÖ-… sowie das bei der Beklagten versicherte Fahrzeug mit dem amtl. Kennzeichen KI-… beteiligt. Der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Pkw verursachte den Unfall alleine schuldhaft, in dem er die Vorfahrt des klägerischen Fahrzeuges missachtete. Zum Zwecke der Schadensbezifferung beauftragte die Klägerin das SV-Büro L. in Kiel mit der Erstellung eines Gutachtens über die an ihrem Fahrzeug entstandenen Schäden. Der Gutachter kam zu schadensbedingten Reparaturkosten in Höhe von 6.133,97 € netto.
Bei der Berechnung wurden seitens des SV die Stundenverrechnungssätze der Mercedes-Benz-Fachwerkstatt zugrunde gelegt. Die Beklagte zahlte auf die beanspruchten Reparaturkosten einen Betrag in Höhe von 5.170,19 €. Ihrem Abrechnungsschreiben beigefügt war ein Prüfbericht der Firma Eucon, in dem auf eine günstigere Reparaturmöglichkeit bei der Firma S. GmbH in Kiel verwiesen wurde. Die Firma S. GmbH hatte bei ihrer Kalkulation niedrigere Stundenverrechnungssätze zu Grunde gelegt, nämlich 75,00 € anstelle von 84,60 € bzw. 97,32 €. Es ergab sich eine Differenz zu dem Gutachten des SV L. in Höhe von 963,78 €, die die Klägerin mit der Klage begehrt.
Sie beantragte, wie entschieden. Die Beklagte beantragte die Klage abzuweisen. Sie war der Ansicht, die Klägerin müsse sich auf die günstigere Reparaturmöglichkeit bei der Fa. S. GmbH verweisen lassen.
Aus den Gründen:
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung des restlichen Sachschadens in Höhe von 963,78 €. Der Direktanspruch gegen die Beklagte als Versicherer ergibt sich aus § 3 des Pflichtversicherungsgesetzes. Gem. Art. 1 der Übergangsvorschriften zum Gesetz zur Reform des Versicherungsvertragsgesetzes gilt § 115 VVG neuer Fassung nicht für vor dem 01.01.2008 entstandene Versicherungsverhältnisse, weshalb diese Vorschrift vorliegend keine Anwendung findet.
Der Anspruch auf Ersatz des vollständigen Schadens ergibt sich dem Umfange nach aus § 249 BGB. Nach dieser Vorschrift hat der Schädiger grundsätzlich den Zustand wiederherzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Ist wegen der Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten, kann der Geschädigte statt der Herstellung auch den dafür erforderlichen Geldbetrag verlangen, § 249 Abs. 2 BGB. Dies gilt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung auch in solchen Fällen, in denen der Geschädigte den Wagen nur minderwertig, nur zum Teil oder überhaupt nicht reparieren lässt (BGHZ 66, 239; BGHZ VersR 192, 710; BGHZ 155, 1 ff. m. w. N.). Soweit die Art der fiktiven Abrechnung in jüngster Zeit zunehmend in Frage gestellt wird (vgl. etwa Rüßmann in: jurisPK-BGB, 3. Aufl. 2006, § 249 BGB, Rn. 80) und auch seitens des Gesetzgebers vermehrt der Versuch zu beobachten ist, zur Vermeidung von Überkompensationen den Grundgedanken einer konkreten Schadensabrechnung wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken (vgl. etwa das am 1.8.2002 in Kraft getretene 2. SchadÄndG), ist zu berücksichtigen, dass im Zuge dieser gesetzlichen Neuerungen gerade von einer – ebenfalls erwogenen – grundlegenden Reform des Sachschadensrechtes ausdrücklich abgesehen und die in der Rechtsprechung praktizierte fiktive Schadensabrechnung im Grundsatz bestätigt wurde (siehe dazu BT-Drs 14/7752). Es gilt insoweit der Grundsatz der Wahlfreiheit. Dies bedeutet, dass der Geschädigte in der Wahl der Mittel zur Schadensbehebung wie in der Verwendung des erhaltenen Geldbetrages frei ist (BGH VersR 1989, 1056 f).
Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch ist vorliegend auch nicht aufgrund eines Verstoßes gegen die ihr gem. § 254 BGB obliegende Verpflichtung zur Schadensgeringhaltung ausgeschlossen. Aufgrund der Schadensminderungspflicht ist der Geschädigte dazu gehalten, im Rahmen des ihm Zumutbaren den wirtschaftlicheren Weg der Schadensbehebung zu wählen (Wirtschaftlichkeitsgebot). Ein Geschädigter, der „mühelos eine ohne weiteres zugängliche günstigere und gleichwertige Reparaturmöglichkeit hat“, muss sich daher auf diese verweisen lassen (so der BGH in der sog. Porsche-Entscheidung: BGHZ 155 1-8). Dabei ist zu beachten, dass die Darlegungs- und Beweislast für die fehlende Wirtschaftlichkeit der vom Geschädigten vorgelegten Reparaturkalkulation grundsätzlich beim Schädiger liegt. Das Gericht teilt in diesem Zusammenhang insbesondere nicht die in der neueren Rechtsprechung zum Teil vertretene Auffassung, wonach es in Fällen, in denen der Schädiger eine konkrete günstigere Reparaturmöglichkeit aufzeigt, dem Geschädigten obliegen soll, konkrete Faktoren zu benennen, welche die aus seiner Sicht fehlende Gleichwertigkeit begründen (so insbesondere AG Kiel Urteil vom 4.2.2008, Az: 112 C 377/07; ähnlich LG Potsdam, Urteil vom 23.1.2008, Az: 13 S 102/07). Eine solche Betrachtungsweise wird nach Auffassung des erkennenden Gerichtes der Darlegungs- und Beweislastverteilung im Schadensrecht nicht gerecht. Vielmehr ist es grundsätzlich Sache des Schädigers die tatsächlichen Voraussetzungen für die Unwirtschaftlichkeit der vom Geschädigten vorgelegten Kostenkalkulation nachzuweisen.
Für die Auffassung des erkennenden Gerichts sprechen insbesondere die Ausführungen des BGH in der bereits mehrfach zitierten Porsche-Entscheidung (BGHZ 155 ,1ff.). Hier hat der BGH ausdrücklich klargestellt, dass der Schädiger für die “tatsächlichen Voraussetzungen einer Ausnahme, die es rechtfertigt, die erforderlichen Kosten zur Schadensbehebung abweichend vom SV-Gutachten festzusetzen, beweispflichtig“ ist (BGH a. a. O). Seitens des Geschädigten soll es danach genügen, wenn er ein SV-Gutachten vorlegt, welches „hinreichend ausführlich ist und das Bemühen erkennen lässt, dem konkreten Schadensfall vom Standpunkt eines wirtschaftlichen denkenden Betrachters gerecht zu werden“ (BGH a. a. O.). Ein solches Gutachten hat die Klägerin mit dem Gutachten des SV L. vorgelegt, so dass es der Beklagten oblegen hätte, die fehlende Wirtschaftlichkeit der Reparaturkalkulation des SV L. nachzuweisen. Diesen Nachweis hat die Beklagte nicht erbracht, insbesondere hat sie keine konkrete günstigere und gleichwertige Reparaturmöglichkeit aufgezeigt, welche der Klägerin mühelos zugänglich war.
Das Gericht geht zunächst nicht davon aus, dass allein der Hinweis auf die niedrigeren Stundensätze der Firma S. GmbH als Nachweis für eine konkrete günstigere Reparaturmöglichkeit genügt. In dem Prüfbericht der Firma Eucon sind lediglich die Stundenverrechnungssätze der jeweiligen Werkstätten ausgetauscht worden. Eine vollständige Kalkulation, vergleichbar mit der des SV L., liegt nicht vor. Ob die Gesamtkosten somit tatsächlich geringer ausfallen würden, lässt sich allein auf der Grundlage eines Austausches der Stundensätze nicht beurteilen.
Selbst wenn man jedoch annimmt, dass die Beklagte mit der Firma S. eine konkrete kostengünstigere Reparaturmöglichkeit aufgezeigt habe, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass damit zugleich der Nachweis für eine gleichwertige Reparaturalternative erbracht wäre. Zwar ergibt sich aus dem Prüfbericht der Firma Eucon, dass auch eine Reparatur bei der Firma S. GmbH ausschließlich nach den Richtlinien und Vorgaben des Fahrzeugherstellers und unter Verwendung der Originalersatzteile durchgeführt werden würde, und die Beklagte verweist in diesem Zusammenhang auf die Entwicklungen auf europäischer Ebene, infolge derer auch freien Werkstätten der Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen der Hersteller gewährleistet ist (vgl. Art. 6 der VERORDNUNG Nr. 715/2007 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 20. Juni 2007). Gleichwohl folgt allein aus diesem Umstand noch nicht die Gleichwertigkeit der von einer unabhängigen Werkstatt durchgeführten Reparatur. Für den Geschädigten kann die Reparatur in einer markengebundenen Werkstatt mit besonderen Vorteilen verbunden sein. Neben speziellem Know-how der Beschäftigten und Reparaturerfahrungen im Hinblick auf einen ganz bestimmten Fahrzeugtyp kann hier eine Rolle spielen, dass langjährige Garantien des Fahrzeugherstellers in der Praxis auch davon abhängig gemacht werden können, das Wartungsdienste und wohl auch Reparaturen in den eigenen markengebundenen Vertragswerkstätten durchgeführt werden. In seiner neueren Rechtsprechung hat der BGH diese Garantiepraxis ausdrücklich bestätigt und eine 30-jährige Garantie für Mercedes Benz Fahrzeuge, welche von der Durchführung der Wartungsdienste in Mercedes-Benz-Werkstätten abhängig gemacht wurde, ausdrücklich als wirksam erachtet (BGH Urteil v. 12.12.2007 VIII ZR 187/06). Vor diesem Hintergrund darf ein Geschädigter, der sein Fahrzeug tatsächlich repariert, grundsätzlich die Dienste einer markengebundenen Werkstatt in Anspruch nehmen, ohne sich vom Versicherer auf eine nicht markengebundene Werkstatt verweisen lassen zu müssen. Nichts anderes kann aber gelten, wenn der Geschädigte fiktiv abrechnet: Eine unterschiedliche Handhabung zwischen fiktiver und tatsächlicher Abrechnung verbietet sich deshalb, weil es dem Geschädigten als Herrn des Restitutionsgeschehens offen bleiben muss, die tatsächliche Reparatur zu einem späteren Zeitpunkt doch noch durchführen zu lassen.Die von der Beklagten aufgezeichnete Reparaturmöglichkeit wäre für die Klägerin auch nicht mühelos ohne weiteres zugänglich, wie es nach der Rechtsprechung des BGH erforderlich wäre (BGH a. a. O.). In diesem Zusammenhang kommt es nach der Auffassung des erkennenden Gerichtes nicht nur darauf an, ob der Geschädigte die von der Versicherung benannte Werkstatt örtlich ohne Schwierigkeiten erreichen kann. Vielmehr ist generell zu berücksichtigen, welche Mühen der Geschädigte entfalten und ob er für die Realisierung der Reparatur einen nicht unerheblichen eigenen (Prüfungs)aufwand betreiben muss. Für eine solche Auslegung dieses Kriteriums sprechen wiederum die weiteren Ausführungen des BGH im sog. Porscheurteil, wonach sich ein Geschädigter jedenfalls dann nicht auf eine vom Schädiger angebotene Möglichkeit der Schadensbehebung verweisen lassen muss, wenn diese die Entfaltung erheblicher eigener Initiative seitens des Geschädigten erfordert (BGH a. a. O.) Nach alledem ist das Gericht nicht von der Unwirtschaftlichkeit der gewählten fiktiven Schadensabrechnung überzeugt, die Beklagte hat allein mit dem Hinweis auf die niedrigeren Stundensätze den Nachweis der fehlenden Wirtschaftlichkeit der klägerischen Kalkulation nicht erbracht. Die Klägerin kann daher grundsätzlich den Ersatz des vollen Schadens auf der Grundlage des von ihr vorgelegten Gutachtens verlangen, so dass ihr ein Anspruch auf Zahlung auch des restlichen Schadens in Höhe von 963,78 € zusteht. Dementsprechend war die Beklagte antragsgemäß zu verurteilen.
So das dogmatisch sauber begründete Urteil der Amtsrichterin der 107. Zivilabteilung des Amtsgerichtes Kiel. Der überzeugenden Begründung ist nichts mehr hinzuzuführen.
Urteilsliste „Fiktive Abrechnung“ zum Download >>>>>
An dieser Stelle sollte einmal betont werden, dass sich der Richter sehr ausführlich mit dem BGH-Urteil auseinandergesetzt hat und richtig begründet hat.
Er hätte ja auch einfach nur sagen können, es ist so oder nicht. Aber diese Begründung dürfte auch ein Versicherungsanwalt verstehen…
Grüße
Andreas
Die meisten Versicherungsanwälte verstehen wohl sehr genau.
Aber verstehen dürfen – wohl kaum!
http://www.eucon.com/de/unternehmen_management.html