Das BVerfG stellt am 18.01.2011 unter dem AZ: 1 BvR 2441/10 einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG fest

Hier im Blog wurde bereits mehrfach berichtet, dass einige Gerichte Sachvorträge nicht zur Kenntnis nehmen bzw. Verfahren, welche z.B. nach Schadensersatzgesichtspunkten zu führen sind, nach Werkvertragsrecht abgehandelt werden. Entsprechende Sachvorträge werden nicht berücksichtigt,  so dass sich klagende Sachverständige – z.B. am AG Coburg – gezwungen sahen, die Klage wieder zurückzunehmen.

Ein vom Bundesverfassungsgericht festzustellender Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt aber dann vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen wurde (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>; 70, 288 <293>; 86, 133 <144 ff.>). Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn ein Gericht das Gegenteil des Vorgebrachten annimmt oder den Vortrag eines Beteiligten als nicht vorgetragen behandelt (vgl. BVerfGK 10, 41 <46> m.w.N.).

Hier nun ein Beispiel aus dem Kaufrecht, bei dem das rechtliche Gehör durch das Amtsgericht verletzt wurde. Siehe hierzu auch den CH-Beitrag vom 21.02.2010 – Nichtzulassung der Berufung.

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

– 1 BvR 2441/10 –

Im Namen des Volkes

In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde

des Herrn H…

gegen a) den Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 23 . August 2010 – 461 C 2877/10 -,
b) das Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 6. Juli 2010 – 461 C 2877/10 –

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

die Richterin Hohmann-Dennhardt
und die Richter Gaier,
Paulus

am 18. Januar 2011 einstimmig beschlossen:

  • Der Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 23. August 2010 – 461 C 2877/10 – und das Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 6. Juli 2010 – 461 C 2877/10 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Hannover zurückverwiesen.
  • Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen amtsgerichtliche Entscheidungen.

1. Der Beschwerdeführer kaufte am 22. Mai 2009 bei der Beklagten des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Beklagte) einen gebrauchten Pkw und schloss gleichzeitig einen selbständigen Garantievertrag für das Fahrzeug ab. Nachdem sich kurz nach der Übergabe Mängel am Getriebe des Fahrzeugs zeigten, wandte sich der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 12. August 2009 schriftlich an die Beklagte und forderte diese unter Fristsetzung auf, die Mängel zu beseitigen. Die Beklagte erklärte sich hierauf mit Schreiben vom 13. August 2009 zur Nachbesserung des Fahrzeugs bereit und teilte gleichzeitig mit, dass sie mit einer Ersatzvornahme durch eine andere Werkstatt nicht einverstanden sei. Nach telefonischer Rücksprache mit der Beklagten ließ der Beschwerdeführer in der Folge eine zunächst erfolglose Reparatur und anschließend einen Austausch des Getriebes des Fahrzeugs durch eine andere Fachwerkstatt vornehmen. Anschließend stellte der Beschwerdeführer der Beklagten die nach Abzug der vom Garantiegeber erbrachten Garantieleistungen verbliebenen Reparaturkosten in Höhe von insgesamt 492,24 € (212,04 € aus der ersten Reparatur und 280,20 € aus der zweiten Reparatur) in Rechnung.

Da die Beklagte diesen Betrag nicht bezahlte, erhob der Beschwerdeführer Klage vor dem Amtsgericht und machte dabei Schadensersatzansprüche in Höhe der Reparaturkosten von 492,24 € nebst Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 58,50 € gegen die Beklagte geltend. Zur Begründung führte der Beschwerdeführer aus, die Beklagte sei aufgrund des geltenden Gewährleistungsrechts zum Ersatz der nach Abzug der Garantieleistungen verbliebenen Reparaturkosten verpflichtet; mit einer Reparatur des Fahrzeugs in einer Fachwerkstatt habe sich die Beklagte einverstanden erklärt. Durch Beschluss vom 15. April 2010 ordnete das Amtsgericht gemäß § 495a der Zivilprozessordnung (ZPO) das schriftliche Verfahren an. Die Beklagte beantragte in der Folge Klagabweisung und wies darauf hin, dass sie dem Beschwerdeführer mit Schreiben vom 13. August 2009 die Nachbesserung des Fahrzeugs angeboten und gleichzeitig die Durchführung der Reparatur durch eine andere Werkstatt abgelehnt habe; der Beschwerdeführer habe ihr das Recht zur Nachbesserung abgeschnitten. Hierauf führte der Beschwerdeführer aus, dass es nach dem Schriftwechsel zwischen ihm und der Beklagten am frühen Abend des 14. August 2009 zu einem Telefonat zwischen ihm und dem Geschäftsführer der Beklagten gekommen sei, in dem man sich im Hinblick auf die weite Entfernung zwischen dem Standort des Fahrzeugs bei Dresden und der Werkstatt der Beklagten in Hannover darauf geeinigt habe, dass er die erforderlichen Reparaturen in einer Fachwerkstatt in Dresden vornehmen lassen könne; zum Beweis seines Vorbringens beantragte der Beschwerdeführer seine Vernehmung als Partei. Die Beklagte nahm hierzu nochmals Stellung und führte unter erneutem Hinweis auf ihr Schreiben vom 13. August 2009 aus, dass ihr nicht nachvollziehbar sei, warum der Beschwerdeführer ihr Angebot zur Nachbesserung ausgeschlagen und eine andere Fachwerkstatt mit der Mängelbeseitigung beauftragt habe. Auf das Vorbringen des Beschwerdeführers zu dem Telefonat am 14. August 2009 ging die Beklagte nicht ein.

Durch Urteil vom 6. Juli 2010 wies das Amtsgericht die Klage des Beschwerdeführers mit der Begründung ab, der Beschwerdeführer habe der Beklagten keine Frist zur Nacherfüllung gesetzt und habe ihr das Recht zur Nacherfüllung genommen, indem er das Fahrzeug in einer anderen Werkstatt habe reparieren lassen, obwohl die Beklagte eine Kostenübernahme hierfür ausdrücklich abgelehnt habe.

Die hiergegen vom Beschwerdeführer erhobene Anhörungsrüge wies das Amtsgericht durch Beschluss vom 23. August 2010 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, das Parteivorbringen sei umfassend berücksichtigt worden. Selbst wenn der Beschwerdeführer wirksam eine Frist zur Nacherfüllung gesetzt habe, sei der Beklagten dennoch das Recht zur zweiten Andienung genommen worden. Das Urteil sei nicht ausschließlich mit dem Fehlen einer Fristsetzung begründet worden, sondern auch damit, dass der Beschwerdeführer das Fahrzeug nicht von der Beklagten habe reparieren lassen, obwohl diese hierzu bereit gewesen sei. Als Beweisantritt für das vom Beschwerdeführer behauptete Telefonat, bei dem der Geschäftsführer der Beklagten einer Reparatur durch einen Dritten zugestimmt haben solle, sei nur eine Parteieinvernahme angeboten worden. Gemäß § 445 ZPO sei dieser Antrag nicht zu berücksichtigen gewesen, weil das Gericht aufgrund des vorgelegten Schriftwechsels davon überzeugt gewesen sei, dass die Beklagte eine Reparatur durch einen Dritten abgelehnt habe.

2. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Zur Begründung führt er aus, das Amtsgericht habe seinen unstreitig gebliebenen Vortrag übergangen, wonach er der Beklagten eine Frist zur Nachbesserung gesetzt habe und wonach die Parteien nach dem Schriftwechsel telefonisch vereinbart hätten, dass er das streitgegenständliche Fahrzeug in einer anderen Fachwerkstatt reparieren lassen dürfe. Die Ausführungen des Amtsgerichts zu seinem Beweisangebot für das Telefonat am 14. August 2009 seien prozessual unzutreffend, weil mit § 138 ZPO unvereinbar. Da sein Vorbringen unbestritten geblieben sei, sei es auf eine Beweiserhebung oder deren Voraussetzungen nicht angekommen. Das Amtsgericht sei bei seiner Entscheidung vom Gegenteil seines unstreitig gebliebenen Vortrags ausgegangen und habe sein Vorbringen zu dem Telefonat vollkommen unberücksichtigt gelassen. Aus welchen Gründen das Gericht eine Überzeugung habe gewinnen können, die dem Gegenteil des unstreitigen Parteivortrags entspreche, sei nicht mitgeteilt worden.

3. Das Niedersächsische Justizministerium und die Beklagte des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Entscheidung maßgeblichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 69, 141 <143 f.>; 86, 133 <144 ff.>). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet.

1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG.

Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 84, 188 <190> m.w.N.; 86, 133 <144 ff.>). Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet daher das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Grundsätzlich geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Ein vom Bundesverfassungsgericht festzustellender Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt aber dann vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen wurde (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>; 70, 288 <293>; 86, 133 <144 ff.>). Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn ein Gericht das Gegenteil des Vorgebrachten annimmt oder den Vortrag eines Beteiligten als nicht vorgetragen behandelt (vgl. BVerfGK 10, 41 <46> m.w.N.).

Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht insbesondere sicherstellen, dass die von den Fachgerichten zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblichen Vorbringens und erheblicher Beweisanträge (vgl. BVerfGE 60, 247 <249>; 60, 250 <252>; 65, 305 <307>; 69, 141 <143 f.>). Zwar gewährt Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz dagegen, dass das Gericht das Vorbringen der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt lässt (vgl. BVerfGE 60, 1 <5>; 60, 305 <310>; 62, 249 <254>; 69, 141 <144>); dies kann aber nicht mehr gelten, wenn die Nichtberücksichtigung von Vortrag oder von Beweisanträgen im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (vgl. BVerfGE 50, 32 <36>; 60, 250 <252>; 65, 305 <307>; 69, 141 <144>).

Dies ist vorliegend der Fall. Das Amtsgericht hat den Vortrag des Beschwerdeführers zu der von ihm erklärten Fristsetzung zur Nachbesserung und zur telefonischen Vereinbarung einer Reparatur des streitgegenständlichen Fahrzeugs durch eine andere Fachwerkstatt in dem angegriffenen Urteil vom 6. Juli 2010 offensichtlich übergangen. Diese Gehörsverletzung wurde zwar insoweit geheilt, als das Amtsgericht das Vorbringen zur Fristsetzung zur Nachbesserung in dem Beschluss über die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers ausdrücklich berücksichtigt hat. Nicht geheilt wurde die Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör allerdings hinsichtlich seines weiteren Vorbringens zu der telefonisch mit dem Geschäftsführer der Beklagten am 14. August 2009 getroffenen Vereinbarung, wonach er das streitgegenständliche Fahrzeug in einer anderen Fachwerkstatt reparieren lassen durfte. Das Amtsgericht hat diesen Vortrag des Beschwerdeführers zwar formal aufgegriffen; es hat das Vorbringen aber aus Gründen, die im Prozessrecht keine Stütze finden, nicht ernsthaft in Betracht gezogen und nicht zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Das Amtsgericht hat verkannt, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers zu der vom vorangegangenen Schriftverkehr abweichenden Vereinbarung über die Reparatur des Fahrzeugs von der Beklagten in keiner Weise bestritten worden ist. Damit hat das Amtsgericht das tatsächlich unstreitige Vorbringen des Beschwerdeführers zu dem Telefonat am 14. August 2009 ohne Grundlage im geltenden Prozessrecht in unvertretbarer Weise als streitig und in der Folge zudem als nicht erwiesen erachtet. Den amtsgerichtlichen Entscheidungen lässt sich schon nicht ansatzweise entnehmen, warum das Vorbringen des Beschwerdeführers zum Telefonat am 14. August 2009 als bestritten und damit überhaupt als beweisbedürftig angesehen worden ist. Die Behandlung des diesbezüglichen Vorbringens des Beschwerdeführers als streitig ist insbesondere nach der unmittelbaren Erwiderung der Beklagten nicht vertretbar, weil sich diese in dem neuerlichen Hinweis der Beklagten auf ihre im Schreiben vom 13. August 2009 erklärte Bereitschaft zur Nachbesserung erschöpfte. Diese Erklärung ist aber schon wegen der zeitlichen Abfolge nicht geeignet, das vom Beschwerdeführer für den nachfolgenden Tag behauptete Telefonat in Frage zu stellen.

Nachdem das Amtsgericht unstreitigen und erheblichen Vortrag des Beschwerdeführers übergangen und ohne Stütze im einschlägigen Prozessrecht nicht zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat, verletzen ihn die angegriffenen Entscheidungen in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG.

Auf dieser Grundrechtsverletzung beruhen die angegriffenen Entscheidungen, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass unter Berücksichtigung des unstreitigen Vorbringens des Beschwerdeführers zu der am 14. August 2009 getroffenen Vereinbarung eine ihm günstigere Entscheidung ergangen wäre.

2. Die Entscheidungen des Amtsgerichts sind hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Die Sache selbst ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Hohmann-Dennhardt                         Gaier                              Paulus

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