Hallo verehrte Captain-Huk-Leserschaft,
heute am Gründonnerstag stellen wir Euch in der Reihe „historische BGH-Urteile“ noch ein „Uralt-Urteil“ zum § 287 ZPO bei einem Personenschaden mit nachfolgendem (kausalen) Selbstmord vor. Auch in diesem Rechtsstreit ging es um die Schätzung des Kausalverlaufs bei einem Schadensereignis. Die Vorschrift des § 287 ZPO dient gerade dazu, dem Unfallopfer den Nachweis der Schadensursächlichkeit und insbesondere den meist schwierigen Nachweis dafür zu erleichtern, wie sich die Lage ohne den Unfall gestaltet haben würde. Zur damaligen Zeit hatte sich der auch damals schon für Schadensersatz zuständige VI. Zivilsenat des BGH noch richtig Gedanken über die Situation des unfallgeschädigten Klägers gemacht. Lest selbst das BGH-Urteil vom 10.6.1958 – VI ZR 120/57 – und gebt dann bitte Eure sachlichen Kommentare ab.
Viele Grüße und schöne Osterfeiertage
Willi Wacker
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 120/57 Verkündet am: 10. Juni 1958
In dem Rechtsstreit
…
1. Ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem Selbstmord und einer auf einem Unfall beruhenden Schädelverletzung besteht, ist vom Gericht nach den Grundsätzen des § 287 ZPO zu entscheiden.
2. Bei der Einschätzung der Unfalleinwirkung dürfen besondere in der Persönlichkeit des Betroffenen und seiner wirtschaftlichen Lage liegende Umstände nicht außer Betracht bleiben. Auch eine den Krankheitszustand verschlimmernde Überbewertung von Unfallfolgen im Sinne einer psychogenen Überlagerung braucht den ursächlichen Zusammenhang nicht in Frage zu stellen.
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 10. Juni 1958 unter Mitwirkung der Bundesrichter Dr. Kleinewefers, Dr. Engels, Dr. K. E. Meyer, Hanebeck und Dr. Hauß
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerinnen wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts in Celle vom 29. November 1956 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an den 9. Zivilsenat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Am 1. September 1950 wurde der damals 43jährige Bauunternehmer K. E. aus A. beim Zusammenstoß seines Kraftrades mit einem vom Beklagten gesteuerten Lastkraftwagen schwer verletzt. E. erwirkte gegen den Beklagten ein Urteil, das die Verpflichtung zum Schadensersatz nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches rechtskräftig feststellte. Über die Höhe der Schadensersatzansprüche ist noch nicht endgültig entschieden. Am 25. September 1953 verübte E. Selbstmord durch Erschießen. Die Erstklägerin ist die Witwe, die Zweitklägerin die Mutter des Verstorbenen, die mit ihrem Sohn Inhaberin der offenen Handelsgesellschaft E. & S. war. Diese Firma betrieb in A. ein Baugeschäft und fiel nach dem Tod des Kurt E. in Konkurs. Die Witwe und die Eltern des Kurt E. haben in dem vorliegenden Rechtsstreit vom Beklagten Ersatz ihres Unterhaltsschadens verlangt und zur Begründung vorgetragen:
Kurt E. sei vor dem Unfall ein gesunder und tatkräftiger Mann gewesen. Bei dem Unfall habe er einen mit Hirnquetschungen verbundenen Schädelbasisbruch und Knieverletzungen davongetragen. Seitdem habe er, abgesehen von den Schmerzen im Kniegelenk, an heftigen Kopfschmerzen, Ohrensausen, Gleichgewichtsstörungen und Schlaflosigkeit gelitten. Der Zustand habe sich nach vorübergehender Besserung seit Herbst 1952 in zunehmendem Maße verschlechtert. Es habe sich eine Hirnleistungsschwäche mit den üblichen Erscheinungen eines hirntraumatischen Siechtums entwickelt. Die Widerstandskraft gegen Außeneinflüsse sei stark herabgesetzt gewesen. Es hätten sich nervöse Symptome und Regulationsstörungen bei Gemütsbewegungen gezeigt, Auffassungsgabe und Konzentrationsfähigkeit seien immer mehr abgesunken. E. habe sich laufend in ärztlicher Behandlung befunden, Spritzen erhalten und Tabletten einnehmen müssen. Für seinen Zustand sei insbesondere nachteilig gewesen, daß die Versicherung des Beklagten die Regulierung des Schadens hinausgezögert habe. Sie habe sich nicht einmal bereit gefunden, durch Zahlung einer Vertretungskraft dem Verletzten einen erforderlichen längeren Erholungsurlaub zu ermöglichen. So sei E. schließlich infolge seines geschwächten Zustandes den Anforderungen der technischen und kaufmännischen Leitung des Unternehmens nicht mehr gewachsen gewesen. Das habe dazu geführt, daß das früher gesunde Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sei. Gerade in dieser Lage habe E. nicht mehr über die erforderliche seelische Widerstandskraft verfügt und schließlich in einem Zustand völliger Zerrüttung Selbstmord verübt. Dieser sei eine Auswirkung der durch den Unfall eingetretenen schweren körperlichen und seelischen Gesundheitsschädigung. Die Klägerinnen sind der Ansicht, daß E. ohne den Unfall verpflichtet gewesen sei, der Ehefrau monatlich 450 DM und den Eltern monatlich je 150 DM als Unterhalt zuzuwenden.
Der Beklagte hat um Abweisung der Klage gebeten. Er hat nicht in Abrede gestellt, für den Unfall haftungsrechtlich verantwortlich zu sein. Wohl aber hat er eine Schadensersatzpflicht gegenüber den Klägerinnen bestritten, in dem er vorgetragen hat, der Selbstmord des E. finde seine Erklärung in dessen schwieriger geschäftlicher Lage und in der Einnahme einer Überdosis von Tabletten (Schlaftabletten und Quadronal). E. habe schon vor dem Unfall geschäftliche Schwierigkeiten gehabt, da die Firma nicht über eine ausreichende Kapitalgrundlage verfügt habe. Ferner habe E. infolge von Fehlkalkulationen Ausfälle gehabt, da er Großbauten zu Preisen übernommen habe, die sich nachher als zu gering herausgestellt hatten. Am Tage des Selbstmordes habe er gefürchtet, daß eine bevorstehende Prüfung eines Bauvorhabens zu Beanstandungen führen und daß es zum Zusammenbruch der Firma kommen werde. Das mache seine starke Erregung vor dem Selbstmord begreiflich. Die von den Klägerinnen behaupteten Auswirkungen des Unfalls auf den körperlichen und seelischen Zustand des E. seien teils übertrieben, teils unrichtig dargestellt. Der objektive Befund der Verletzungen erkläre die behauptete Wesensveränderung nicht. Der Beklagte hat sodann die Höhe des Schadens bestritten und vorgetragen, daß sich die Erstklägerin als frühere Zahnärztin selbst unterhalten könne. Auch hat er sich hilfsweise auf ein Mitverschulden des E. berufen, das er insbesondere in dem Tablettenmißbrauch und in der schlechten Geschäftsführung der Firma sieht.
Das Landgericht hat die Klageansprüche dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Mit der Berufung hat der Beklagte seinen Antrag auf Klageabweisung weiterverfolgt. Während des Berufungsverfahrens hat das Landgericht das Höheverfahren zugunsten der Eltern E. fortgesetzt und den Beklagten durch Urteil vom 14. Mai 1956 verurteilt, an die Eltern E. monatlich je 120 DM für die Zeit vom 27. September 1953 bis zum Tod, längstens jedoch beim Vater bis zum 1. Januar 1960 und bei der Mutter bis zum 1. Januar 1964 zu zahlen.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte ebenfalls Berufung eingelegt, über die noch nicht entschieden ist.
Am 2. Oktober 1956 ist der Vater A. E. verstorben und von seiner Ehefrau, der Zweitklägerin, beerbt worden. Diese hat die auf sie übergangenen Ansprüche weiter verfolgt.
Das Oberlandesgericht hat das Zwischenurteil des Landgerichts über den Grund des Anspruchs abgeändert und die Klage abgewiesen.
Die Klägerinnen verfolgen mit der Revision die Klageansprüche weiter. Der Beklagte bittet um Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat die Klage deshalb abgewiesen, weil die Klägerinnen nach seiner Ansicht den Beweis für das Bestehen eines adäquaten ursächlichen Zusammenhangs zwischen den Unfallverletzungen des E. und seinem Selbstmord nicht geführt haben. In den Entscheidungsgründen gibt das Berufungsgericht den Inhalt der Zeugenaussagen über den geistigen und seelischen Zustand des E. in der Zeit nach dem Unfall eingehend wieder. Es entnimmt offenbar dieser Beweisaufnahme, daß gegenüber dem gesunden Zustand vor dem Unfall deutlich erkennbare Zeichen einer geschwächten Konstitution im Sinne von Ermüdungserscheinungen, Erregbarkeit und Konzentrationseinbuße hervorgetreten sind, obwohl nach Ansicht des Berufungsgerichts die Aussagen der Zeugen über die Intensität dieser Ausfallserscheinungen kein völlig einheitliches Bild ergeben. In Übereinstimmung mit dem Gutachten der Sachverständigen geht das Berufungsgericht von einer durch die Kopfverletzung bedingten Erwerbsminderung der E. vom 40 % für des erste Jahr nach dem Unfall aus und hält für die Folgezeit eine als Dauerschaden zu wertende Erwerbsminderung von 30 % für erwiesen. Trotz dieser Einbuße sieht sich das Berufungsgericht nicht zu der Feststellung in der Lage, daß der Selbstmord des E. auf die durch den Unfall eingetretene Schwächung seiner Konstitution zurückzuführen ist. Es meint, es könne nicht einmal mit Gewißheit davon ausgegangen werden, daß der Schädelbasisbruch zu einer Hirnprellung (Kontusion) geführt habe, wenn auch das Gutachten die Wahrscheinlichkeit als groß bezeichne, daß eine Hirnschädigung vorgelegen habe. Sei eine Hirnkontusion nicht eingetreten, so scheide ein adäquat ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfall und Selbstmord von vornherein aus. Aber auch bei Unterstellung einer Hirnkontusion sei ein solcher Zusammenhang nicht bewiesen. Gradmäßig ließen sich die Klagen E. über seinen geschwächten Zustand und die entsprechenden Beobachtungen der Zeugen nicht ohne weiteres mit dem Unfall und seinen Folgen in Zusammenhang bringe. Es bestehe die Möglichkeit einer psychogenen Überlagerung die den ursächlichen Zusammenhang in Zweifel stelle. Vor allem sei nicht auszuschließen, daß der Selbstmord andere Ursachen habe. In diesem Zusammenhang wird auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des von E. geleiteten Unternehmens in der Zeit vor dem Selbstmord, auf den Tablettenmißbrauch und auf die Möglichkeit einer Kurzschlußreaktion unmittelbar vor dem Selbstmord hingewiesen. Das Berufungsgericht vermag auch nicht die Feststellung zu treffen, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Unfall Verletzungen und der ungünstigen wirtschaftlichen Lage der Firma E. besteht.
II.
Das Urteil hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
1. Zunächst ist es, wie die Revision mit Recht rügt, zu beanstanden, daß das Berufungsgericht die Entscheidung maßgeblich auf die Beweislast der Klägerinnen abstellt. Da die Kausalbeziehung im Ablauf des Geschehens, das den konkreten Haftungsgrund bildet, unstreitig ist, und es sich nur um die Entscheidung darüber handelt, welcher Schaden durch den Unfall des E. eingetreten ist, greift die Vorschrift des § 287 ZPO ein, die den Tatrichter besonders freistellt, indem sie ihn berechtigt, unabhängig von einer Beweislast, über die Folgen einer feststehenden Körperverletzung nach freier Überzeugung zu entscheiden und dabei auch, wenn ausreichende Unterlagen zur Verfügung stehen, zu einer Schätzung zu greifen (vgl. RGZ 168, 47; BGHZ 4, 192; BGB LM Nr. 3 zu § 287 ZPO). Die Vorschrift des § 287 ZPO dient gerade dazu, dem unfallbetroffenen Kläger den Nachweis der Schadensursächlichkeit und insbesondere den meist schwierigen Nachweis dafür zu erleichtern, wie sich die Lage ohne den Unfall gestaltet haben würde. Die entscheidend auf die Beweislast abgestellte Begründung des Berufungsgerichts läßt nicht erkennen, daß sich dieses seiner sich aus § 287 ZPO ergebenden freien Stellung bewußt gewesen ist. Dagegen spricht insbesondere, daß das Berufungsgericht Zweifel ausspricht, ob die Ausführungen der Gutachter über einen sehr wahrscheinlich vorliegenden medizinischen Zusammenhang (Erklärung der Beschwerden aus einer Hirnkontusion) überhaupt eine genügend tragfähige Grundlage einer beweismäßigen Feststellung sein können. Mit Recht weist die Revision auch darauf hin, daß die Ansicht des Berufungsgerichts, bei einer bloßen – aber immerhin mit einem Schädelbasisbruch – verbundenen Gehirnerschütterung scheide ein ursächlicher Zusammenhang von vornherein aus, mindestens näherer Begründung bedurft hätte. Zudem ist nicht ersichtlich, daß das Berufungsgericht über die notwendige medizinische Sachkunde verfügt, um die möglichen Folgen einer Gehirnerschütterung sachgerecht beurteilen zu können (vgl. BGH LM Nr. 6 zu § 286 (E) ZPO).
2. Aber auch in sachlich-rechtlicher Beziehung sind die Rügen der Revision im wesentlichen berechtigt. Das Berufungsgericht erkennt zwar, daß der Selbstmord eines durch eine Hirnverletzung in seiner seelischen Widerstandskraft geschwächten Menschen eine adäquat ursächliche Folge der Hirnverletzung sein kann. Die Erwägungen, aus denen heraus im vorliegenden Falle ein solcher Ursachenzusammenhang trotz Anerkennung einer unfallbedingten Schwächung der geistigen und seelischen Konstitution in Zweifel gestellt wird, sind jedoch offenbar durch Rechtsirrtum beeinflußt.
Für die Überzeugungsbildung des Berufungsgerichts hat das nervenärztliche Fachgutachten des Prof. Dr. K. und des Med. Rat Dr. Z. (das sogenannte Göttinger Gutachten), das wiederholt in Bezug genommen wird, eine entscheidende Rolle gespielt. Dieses Gutachten trennt die „eigentlichen“ Unfallfolgen, wie sie sich aus dem organischen Befund nach ärztlichem Erfahrungswissen ergeben, von jenen Folgen ab, die erst durch die äußere Situation des E. , seinen Rentenkampf, seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die übermäßige Tabletteneinnahme zu erklären sind und die zu einer Steigung der Kopfschmerzen und der sonstigen Beschwerden (Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Konzentrationsmangel) und damit zu einer Verschlimmerung des Zustandes geführt haben. Das Gutachten zieht diese als „unfallfremden Anteile“ bezeichneten Faktoren von den „eigentlichen“ Unfallfolgen ab und kommt nach dieser Abgrenzung zur Annahme eines unfallbedingten Dauer Schadens von 30 %. Ebenfalls wird eine als wahrscheinlich erachtete „psychogene Überlagerung“ der Beschwerden nicht als Unfallfolge anerkannt, daher bei der Einschätzung des Grades der Einbuße außer Betracht gelassen. Das Gutachten schätzt sodann entsprechend der von ihm anerkannten Erwerbsminderung von 30 % auch das unfallbedingte Maß der Minderung der seelischen Widerstandskraft auf etwa 30 % ein. Als „adäquaten Beweggrund (Hauptmotiv)“ für den Selbstmord vermag das Gutachten diese Hinderung nicht anzuerkennen. Der Selbstmord ist nach Ansicht der Gutachter aus einer reaktiven, depressiven Verstimmung zu erklären, die „in der Hauptsache“ auf die kritische wirtschaftliche Lage des E. zurückzuführen sei. Es sei allerdings – so meint das Gutachten – nicht auszuschließen, daß auch die unfallbedingten Gesundheitsstörungen und die dadurch noch bestehende Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Arbeitsfähigkeit mit zu dem Selbstmordentschluß beigetragen hätten, insofern könne aber nur ein mittelbarer, zwar nicht teilursächlicher, aber doch teilmotivistischer Zusammenhang mit dem Unfall angenommen werden (vgl. hierzu insbesondere S. 52 bis 57; 65 bis 68 des Göttinger Gutachtens). In einem Nachtragsgutachten erklärt Dr. Z. es sei nicht anzunehmen, daß die Unfallfolgen im „wesentlichen Maß“ zu dem Entschluß zum Selbstmord beigetragen hätten.
So wichtig die medizinischen Erkenntnisse des Gutachtens für das Berufungsgericht sein konnten, durfte doch von der gebotenen kritischen Würdigung der Ausführungen in jenem Bereich nicht abgesehen werden, der die entscheidende Rechtsfrage des ursächlichen Zusammenhangs betraf. Gerade weil der Mediziner durchweg nicht von dem rechtlichen, sondern von einem anderen, nämlich naturwissenschaftlichen Ursachenbegriff ausgeht, muß sich das Gericht bewußt sein, daß es – natürlich unter Würdigung medizinischer Erkenntnisse – die Frage des Bestehens eines ursächlichen Zusammenhangs nach den Grundsätzen des Rechts in eigener Verantwortung zu entscheiden hat. Sonst besteht die Gefahr, daß in Anlehnung an die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise eines medizinischen Gutachtens die für das Recht maßgebliche Problemstellung nicht richtig erkannt wird.
Im vorliegenden Falle kam es bei der Würdigung des ursächlichen Zusammenhangs naturgemäß vor allem darauf an, das Maß der körperlichen und seelischen durch den Unfall bedingten Beeinträchtigung des E. richtig einzuschätzen. Indem das Berufungsgericht die Einschätzung des Gutachtens übernimmt, hat es in der Sache auch jene Gedankengänge des Gutachtens bestätigt, die zu der Einschätzung der Einbuße von 30 % geführt haben. Gegenüber der ärztlichen Einschätzung der Einwirkung der Unfallfolgen war jedoch vom Standpunkt des Rechts zu berücksichtigen, daß es nicht anging, die ursächliche Bedeutung der Verletzungen nur isoliert nach dem vorliegenden organischen Befund zu bewerten. Vielmehr war zu fragen, wie sich die vom Gutachter bestätigtem körperlichen und seelischen Gesundheitsstörungen auf den Betroffenen unter Berücksichtigung seiner Persönlichkeitsartung und seiner konkreten Lebensverhältnisse im Zeitpunkt des Unfalls und der Krankheit ausgewirkt haben. Wurden die Verletzungsfolgen durch besondere, aber nicht außerhalb des adäquaten Zusammenhangs liegende Umstände verschlimmert, so mußte auch diese Erschwerung in Rechnung gestellt werden, weil es vom Standpunkt des Rechts ausreicht, daß jene Bedingung, für die der Schädiger verantwortlich war, eine Mitursache für einen schädigenden Erfolg gesetzt hat. Es durfte daher nicht gebilligt werden, daß die konkreten, in der Persönlichkeit des E. und seinen Lebens- und Arbeitsverhältnissen liegenden Besonderheiten ausgeklammert wurden und demgemäß bei der Einschätzung der Schwere der Einbuße außer Betracht blieben. Sowohl das Ergebnis der Zeugenvernehmung wie auch das Göttinger Gutachten mußten Anlaß zu einer Prüfung geben, ob nicht das Maß der unfallbedingten Beeinträchtigung der geistigen und seelischen Widerstandskraft deshalb höher einzuschätzen war, weil der Betroffene als verantwortlicher Leiter eines Unternehmens in einem den ganzen Einsatz seiner Kräfte erfordernden wirtschaftlichen Existenzkampf stand und außerdem trotz seiner Bemühungen nur einen unzureichenden oder verspäteten Ausgleich seiner vermögensrechtlichen Einbuße von der Versicherung des Beklagten erhielt.
Es ging ferner nicht an, eine psychogene Überlagerung eines organischen Krankheitsbefundes, wie sie gerade bei Hirngeschädigten häufig aufzutreten pflegt, einfach für die Beurteilung als belanglos, weil inadäquat, zu bezeichnen. Gerade der erkennende Senat hat gegenüber ärztlichen Stellungnahmen mit Nachdruck an der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts (RGZ 155, 37; 159, 257; 169, 117) festgehalten, daß die Schadensersatzpflicht nicht auf organisch feststellbare Schäden beschränkt ist, sondern daß auch jene sich in einer Leistungsminderung auswirkenden Beeinträchtigungen zu entschädigen sind, die aus einer seelischen Reaktion des Betroffenen auf einen Unfall und körperliche Gesundheitsstörungen zu erklären und zu verstehen sind (BGHZ 20, 137; LM Nr. 2 zu § 249 (B b) BGB). Nur für die besonderen Folgen eigentlichen Rechts- oder Rentenneurosen ist der Schadensersatzpflicht des Schädigers eine Grenze gesetzt worden. Nach den bisherigen Feststellungen sind aber keine Anhaltspunkte für das Vorliegen jener Voraussetzungen ersichtlich, die gemäß den in der Entscheidung des Senats BGHZ 20, 137 aufgestellten Grundsätzen zu einer Einschränkung der Schadensersatzpflicht führen könnten. Indem das Berufungsgericht das Maß der unfallbedingten Minderung der seelischen Widerstandskraft – dem Gutachten folgend – in einer isolierenden Betrachtungsweise festsetzt und demzufolge Faktoren unberücksichtigt läßt, die bei rechtlicher Würdigung nicht ausgeschaltet werden dürfen, hat es von vornherein den richtigen Blickpunkt für die Würdigung des ursächlichen Zusammenhangs im Rechtssinne verfehlt.
Es liegt nahe, daß durch diese rechtlich fehlsame Betrachtungsweise auch die Einschätzung beeinflußt ist, die das Berufungsgericht jenen Erklärungsmöglichkeiten für den Selbstmord beimißt, die nach seiner Ansicht vom Unfall unabhängig sein können. Was zunächst die wirtschaftlich kritische Lage des Unternehmens angeht, so kann erst nach richtiger Einschätzung des Maßes der unfallbedingten körperlichen und seelischen Beeinträchtigung des E. die Frage geprüft und unter Berücksichtigung des § 287 ZPO beantwortet werden, ob nicht E. als gesunder und voll arbeitsfähiger Mann den Schwierigkeiten Herr geworden wäre, ob also nicht die eigentlich kritische Lage erst durch die Einbuße an Arbeits- und Willenskraft in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem es auf Konzentration und Entschlußfähigkeit besonders ankam. In diesem Zusammenhang könnte auch die behauptete Verzögerung in der Regulierung berechtigter Haftpflichtansprüche Bedeutung gewinnen. Wird das Maß der Beeinträchtigung an Arbeits- und Widerstandkraft unter Würdigung aller Umstände höher eingeschätzt, so liegt es auch nicht fern, daß sich der Tatrichter in freier Würdigung die Überzeugung gebildet hätte, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten würden auf E. ohne die hinzukommende Unfallbeeinträchtigung jedenfalls nicht Anlaß zu einem Selbstmordentschluß gegeben haben. Die Erwägungen des Berufungsurteils sind deutlich an die Auffassungen des Göttinger Gutachtens angelehnt, das nach einer Hauptursache fragt und den unfallbedingten Gesundheitsstörungen nur eine untergeordnete („teilmotivistische“) Bedeutung beilegen möchte, indem es ihre Schwere isoliert nach dem medizinisch ermittelten organischen Befund würdigt. Auch die richtige Bewertung der besonderen geistigen Verfassung des E. unmittelbar vor dem Selbstmord ist davon abhängig, daß die Schwere der körperlichen und seelischen Einwirkungen der Verletzungen, wie sie sich aus dem Zusammenwirken mehrerer Ursachen ergeben kann, zutreffend erkannt wird. Daß auch ein körperlich und seelisch gesunder Mensch zu einer solchen Kurzschlußreaktion kommt, wie sie das Berufungsgericht nach den Umständen für möglich hält, ist sicher sehr fernliegend, während ein depressiver, durch geschwächte seelische Widerstandskraft gekennzeichneter Zustand auch eine sogenannte Kurzschlußreaktion in besonderen Umständen erklärlich machen kann. Was endlich den Mißbrauch von Tabletten angeht, so würde dieser selbst dann noch nicht als inadäquate Unfallfolge angesehen werden können, wenn man lediglich von der in dem Gutachten anerkannten unfallbedingten Gesundheitsbeeinträchtigung ausgehen wollte. Es ist keineswegs ganz ungewöhnlich, daß sich ein Hirngeschädigter an die vom Arzt verordneten Kopfschmerz- und Linderungsmittel gewöhnt und dann, wenn die Schmerzen nicht nachlassen, im Übermaß von diesen Mitteln Gebrauch macht. Im vorliegenden Falle könnte die übermäßige Einnahme von Beruhigungs- und Kopfschmerzmitteln durch die seelische Belastung des E. angesichts seiner beruflichen Aufregungen eine weitere Erklärung finden, ohne daß deshalb schon der ursächliche Zusammenhang mit den Verletzungsfolgen in Frage gestellt würde. Eine ganz andere Frage ist es, ob in dem Tablettenmißbrauch ein für die Verschlimmerung der Krankheit und den Selbstmordentschluß ursächliches und vielleicht sogar überwiegendes Mitverschulden des E. zu sehen ist, das gemäß § § 254, 846 BGB eine Minderung der Schadenersatzansprüche zur Folge haben könnte. Bei dieser Beurteilung wird es insbesondere darauf ankommen, ob E. bei der ihm nach seiner Willenskraft möglichen und zuzumutenden Selbstbeherrschung in der Lage gewesen wäre, der Versuchung zu widerstehen, Tabletten und Narkotika im Übermaß einzunehmen. Ebenfalls könnte der Gesichtspunkt des § 254 BGB Bedeutung gewinnen, wenn eine psychogene Überbewertung der Schmerzen und Hemmungen zu einer Verfestigung und Vertiefung des Krankheitszustandes geführt haben sollte, die bei möglicher und zumutbarer Selbstbeherrschung zu vermeiden gewesen wäre.
III.
Das klageabweisende Urteil des Berufungsgerichts konnte daher keinen Bestand haben. Vielmehr ist eine erneute Würdigung durch den Tatrichter erforderlich. Durch die Zurückverweisung ist den Klägerinnen die Möglichkeit gegeben, auch die weiteren mit der Revision geltend gemachten verfahrensrechtlichen Beanstandungen dem Berufungsgericht vorzulegen und jene Ergänzungen zur Beweisaufnahme zu beantragen, die sie erreichen möchten. Es erschien angemessen, einen anderen Senat des Berufungsgerichts mit der erneuten Verhandlung zu beauftragen (§ 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO).
Dem Berufungsgericht war die Entscheidung über die Kosten der Revision zu übertragen.
Dr. Kleinewefers Engels Dr. K. E. Meyer
. Hanebeck Dr. Hauß
Vorinstanzen:
OLG Celle, Entscheidung vom 29.11. 1956